Der Thüringer Weg – Das Buch

Es braucht Mut zur Gestaltung, um als erster LINKEN-Landesverband nicht nur mitzuregieren, sondern von der Spitze weg zu gestalten. Und es braucht einen Kompass, der Veränderung im Hier und Heute, Protest und Widerstand sowie die Idee einer ganz anderen, sozial gerechten Gesellschaft als Dreiklang verbindet. Das macht den Thüringer Weg aus.

Dass dieser erfolgreich beschritten werden konnte, wäre ohne die vielen engagierten Menschen, die Genoss*innen und Wähler*innen, die Abgeordneten und Mitarbeiter*innen, nicht möglich gewesen. Ihnen ist dieses Buch gewidmet. Ein Rückblick auf 30 Jahre Fraktion PDS und DIE LINKE, auf das Ringen um konkrete Alternative und die dafür nötige pragmatische Weitsicht, auf den Einsatz für soziale Gerechtigkeit und grundlegende Veränderung – auf das gemeinsame Vorankommen auf dem Thüringer Weg.

Kapitel 1

Rote Rathäuser 

Neuanfang und Bürgernähe: Wie die letzte Kommunalwahl in der DDR im Mai 1990 die Politik der PDS prägte 

Wo fängt sie an, die Geschichte der PDS-Fraktion in Thüringen? Der Konstituierung im Landtag nach den Wahlen am 14. Oktober 1990, bei der die PDS mit 136.464 Zweitstimmen drittstärkste Kraft geworden war, ging schließlich eine Menge voraus – vom politischen Aufbruch in der DDR im Wende-Herbst über den Sonderparteitag der SED im Dezember 1989 bis zur Erneuerung in den bisherigen Bezirken Erfurt, Suhl und Gera. Nicht zu vergessen die Volkskammerwahl vom März 1990 und die letzten Kommunalwahlen am 6. Mai 1990. 

Hier tauchen nicht nur schon die Namen einiger jener Protagonist*innen auf, die später den linken Landtagskurs im Freistaat prägen sollten. Auch die künftige Politik erhält hier erste Konturen. Das Bemühen, über eine starke Verankerung in den Städten und Gemeinden nicht nur oppositionell, sondern auch gestaltend zu wirken, gehört sicher dazu. Bereits im November 1989 war Dieter Strützel in die Bezirksleitung der im Umbruch befindlichen SED in Gera berufen worden, im Februar 1990 sollte er Vorsitzender des Bezirksverbandes werden. Der spätere Landesvize der PDS gehörte zu den zentralen Figuren des Neuanfangs. Ebenso wie Gabi Zimmer, die Anfang Februar 1990 neue Vorsitzende des Bezirksvorstandes Suhl der SED/PDS wird. Nur zwei Tage später verabschiedet sich die Partei vom historischen Namenskürzel. In Erfurt wurde damals Annemarie Brückner an die Spitze der Bezirksorganisation gewählt, auf der Konferenz lag den Delegierten seinerzeit auch die erste Ausgabe der »Unsere Neue Zeitung« – UNZ – vor, auch dies ein Anfang, von dem Linien bis in unsere Zeit reichen. Anfang März 1990 wurde Klaus Höpcke zum Leiter der Kommission für Kultur und Wissenschaftspolitik beim Parteivorstand der PDS in Berlin berufen, er wird bald der erste Vorsitzende der Thüringer Fraktion sein. 

»Mut geben mir vor allem viele junge Genossen, die sich vielerorts an die Spitze stellen und Kraft aufbringen, wo andere schon aufsteckten«, so hat Annemarie Brückner im Frühjahr 1990 über ihre Erfahrungen in einer an Umbrüchen, an Enttäuschungen, an Schwierigkeiten und an politischen Hoffnungen reichen Zeit berichtet. Es hatte Diskussionen darüber gegeben, ob eine Auflösung der SED der bessere Weg der Erneuerung sei. Die Umstellung des Organisationsprinzips auf die Wohnorte statt wie bis dahin auf die Betriebe musste bewältigt werden. Mitgliederexodus, die Aufarbeitung der schweren und nachwirkenden Fehler der SED-Zeit und die aktuelle Politik stellten jeden Tag neue Herausforderungen dar. Bei den Volkskammerwahlen im März 1990 hatte die PDS etwas mehr als 16 Prozent DDR-weit geholt, in den drei Thüringer Bezirken lagen die Ergebnisse darunter: in Erfurt bei 9,9 Prozent, in Gera bei 12,5 Prozent und in Suhl bei 12,6 Prozent. Die Wahlen waren eine Richtungsentscheidung, der Zug mit dem Ziel Vereinigung raste fortan unaufhaltsam. Dass mit der politischen Wende 1989 zuvor auch Ziele verbunden waren, die nicht auf einen »Nachbau West« gerichtet waren, sondern eine eigenständige Entwicklung der DDR verfolgten – eine der demokratischen, sozialen und ökologischen Erneuerung, wird heute darüber oft vergessen. 

Doch schon damals galt: Nach der Wahl ist vor der Wahl. Kaum noch in der Erinnerung verankert ist, dass in der DDR Anfang Mai 1990 schon wieder in die Abstimmungslokale gerufen wurde. Ein Leserbriefschreiber wünschte sich im März 1990 im »ND«, dass mit den Kommunalwahlen »der deutschnationale Taumel gekippt, und die Kräfte, die uns unter der Gefahr ihrer Existenz gegen den alten Machtapparat Demokratie erkämpften«, siegreich sein würden. Das bezog sich nicht nur auf die vielen Bürgerrechtler*innen, deren Wahlorganisationen bei der Besetzung der Volkskammer im März kaum einen Fuß auf die parlamentarische Erde bekommen hatten. Es ging um Eigenständigkeit in einem ganz generellen Sinne. Oder, wie es der Parteivorstand der PDS in Auswertung der Ergebnisse vom 18. März 1990 formulierte, um die Erwartung, »dass die Kommunalwahlen in der DDR eigenständiger als die Volkskammerwahlen durchgeführt werden und nicht erneut eine Kolonialisierung des Wahlkampfes durch Politiker aus der BRD erfolgt«. Die massive materielle Unterstützung durch Westparteien für die konservative »Allianz für Deutschland« und die offenkundige Absicht, mit deutschlandpolitischen und D-Mark-Versprechen das Abstimmungsverhalten zu prägen, stießen nicht nur im Umfeld der PDS auf deutliche Kritik. 

Ja zur Basisdemokratie

Der April 1990 stand so unter einer doppelten Prägung. Einerseits überschlugen sich die Ereignisse auf dem durchaus umstrittenen Weg zur Einheit, immer stärker dominiert von den Interessen in Bonn. Andererseits stand mit dem Kommunalwahlkampf auch eine Herausforderung an, in der Politik aus der Perspektive »von unten« im Zentrum stand. Es ging um Politik vor Ort, also auch um einen direkteren, näheren Zusammenhang von den Interessen der Bürger*innen und den Möglichkeiten gestaltenden Wirkens. »Ja zur Basisdemokratie«, so war ein Interview mit dem damaligen PDS-Präsidiumsmitglied Bernd Meier betitelt. Die Partei hatte kurz zuvor ein kommunalpolitisches Wahlprogramm vorgelegt und diskutierte nun Mitte April auf einer Konferenz in Berlin darüber – auch Vertreter der im Bündnis 90 vereinten Bewegungen sowie andere grüne und linke Gruppen waren eingeladen. 

Letzteres war nicht bloß mit Blick auf mögliche Kooperationen geschehen, es hatte auch einen substanziellen politischen Grund. Der damalige Oberbürgermeister von Suhl, Horst Kober, warnte davor, auf die Erfahrungen der vielen örtlichen Runden Tische zu verzichten. Dort waren vor allem die Bürgerbewegungen aktiv, ihr politischer Einfluss wirkte vor allem über diese Gremien. Es sei »denkbar und nützlich, Bürgerinitiativen mit einer entsprechenden Repräsentanz bei der Entscheidungsfindung der Volksvertretung wirksam zu machen«, so Kober. Zumal es um viel ging, nicht zuletzt um viele neue Probleme. »Man braucht kein Prophet zu sein, um zu sehen, welchen Belastungen die Kommunen in den kommenden Monaten und Jahren ausgesetzt sein werden«, sagte Gregor Gysi auf der Konferenz, er war im Dezember 1989 zum neuen Vorsitzenden der PDS gewählt worden. Zu diesen Herausforderungen zählte man seinerzeit nicht nur die schon absehbaren sozialen und ökonomischen Folgen der Vereinigungspolitik. Es ging auch um ganz grundsätzliche Fragen der kommunalen Selbstverwaltung, wie es auch im kurz vorher vom Runden Tisch vorgelegten Entwurf für eine neue Verfassung der DDR vorgeschlagen worden waren.

Inzwischen war viel geschehen, dass dieser Entwurf politisch nicht mehr zum Zuge kam, ist eine andere Geschichte. Aber die Rolle, die Verfassungsdebatten damals spielten, kann nicht groß genug eingeschätzt werden. Die Abstimmungen in den Städten und Gemeinden sollten nach Ansicht von Gysi auch dazu genutzt werden, etwas gegen die »schwarzgescheckte Regierung und eine Mehrheit der Rechtsallianz in der Volkskammer« in Bewegung zu bringen. Vor Ort. »Je mehr unsere Kandidaten von den Bürgern akzeptiert werden, desto schwieriger wird es für die Regierung, das einfach zu übersehen«, so Gysi damals. Er wollte sogar »so weit gehen zu sagen, dass bei den sichtbaren unterschiedlichen Tendenzen in der Regierung jedes rote Rathaus die humanistischere, demokratischere, anständigere und souveränere Tendenz in der Regierung unterstützt und die andere schwächt und leider auch umgekehrt«. 

An der Seite der Bevölkerung

Das Ergebnis der Kommunalwahl am 6. Mai 1990 war dann auch keineswegs bloß eine Wiederholung der Volkskammerwahl anderthalb Monate zuvor. Zwar wurde die CDU DDR-weit abermals stärkste Partei (30,4 Prozent) – allerdings mit deutlichen Verlusten (Volkskammerwahl: 40,8 Prozent). Während die SPD mit 21,9 Prozent ein recht ähnliches Ergebnis einfuhr, ging der DDR-weite Anteil der PDS-Stimmen bei den Kommunalwahlen auf etwa 14 Prozent leicht zurück. 

In den drei Bezirken, die kurz darauf zum Bundesland Thüringen wurden, erzielte die PDS 9,7 Prozent, mit einigen lokalen Leuchttürmen: In Erfurt gewannen die demokratischen Sozialisten in der Stadtverordnetenversammlung 25 Mandate, in Gera 17, in Jena 13, in Suhl 15 und in Weimar 5 Mandate. Die Stimmenanteile lagen hier zwischen 10 Prozent und fast 25 Prozent. Bei den Gemeinderatswahlen kam man thüringenweit auf 9,2 Prozent. Die Partei habe sich auf gewisse Verluste eingestellt, aber insgesamt eines erreicht, so formulierte es Gregor Gysi am Tag nach den Abstimmungen: »Wir sind im Prinzip in allen kommunalen Vertretungen verankert. Man muss sich auf PDS-Fraktionen in den Kommunen einstellen.« 

Als linke Partei hatte sich die PDS im Kommunalwahlkampf »vor allem zum Anwalt der werktätigen Bevölkerung machen« wollen, so sagte es Gysi auf der kommunalpolitischen Konferenz im April. »Worum drehen sich heute die Diskussionen von Millionen Menschen, worauf beziehen sich ihre Ängste? Werde ich Arbeit haben? Kann ich in meiner Wohnung bleiben? Wird das Geld reichen fürs tägliche Leben? Kann ich die Kinder in Krippe, Kindergarten, Hort betreuen lassen? Werden Kinder und Jugendliche eine ordentliche Ausbildung erhalten und danach einen Arbeitsplatz? Was wird mit den Renten? Was kann künftig für die sozial Schwachen getan werden?« 

Allesamt Fragen, die in folgenden Jahren und auch im Landtagswahlkampf in Thüringen im Herbst 1990 eine wichtige Rolle spielten. Wenn später die PDS als »Kümmererpartei« bezeichnet worden ist, die vor allem vor Ort, mit unmittelbarer Hilfe und Beratung, mit kommunalem Engagement zu punkten suchte, dann liegen die Ursprünge dafür nicht zuletzt in den kommunalpolitischen Auseinandersetzungen des Frühjahrs 1990. Dass im September desselben Jahres in Berlin das Kommunalpolitische Forum der PDS gegründet wurde, gehört mit zu diesem Teil der Geschichte. Über 10.000 Abgeordnete mit PDS-Mandat gab es damals in der Noch-DDR. In über 300 Gemeinden, vorwiegend in ländlichen Gebieten, stellte die PDS den Bürgermeister*innen. 

Kapitel 4

Richtung Reformprojekt

Erfurter Erklärung und rot-rote Bündnisfragen: Die PDS-Fraktion Thüringen in der zweiten Legislaturperiode 1994 bis 1999

1994 war das, was in Zeitungen gern ein »Superwahljahr« genannt wird. Roman Herzog wurde im Mai zum siebten Bundespräsidenten gewählt – auf Vorschlag der Union. Einige Jahre später sollte er mit seiner »Ruck«-Rede für Schlagzeilen, einem Plädoyer in neoliberalem Geist. Es war die Aufforderung, »von lieb gewordenen Besitzständen« Abschied zu nehmen Und wann immer so hierzulande gesprochen wurde, ging es um die Beförderung von »Reformen« im Interesse derer, die schon besser dastehen als andere. Hier wurde jemand zum Staatsoberhaupt, der die Begleitworte für Sozialabbau und die Schwächung der Gewerkschaften sprach. In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre nahmen die Auseinandersetzungen um soziale Sicherung, Löhne und gesellschaftspolitische Modernisierung zu. Damit rückte auch die Frage nach progressiven Alternativen wieder stärker in den Vordergrund. Und das galt auch für das »Superwahljahr« 1994. In Niedersachsen, Brandenburg, Sachsen, Bayern fanden Landtagswahlen statt. Auch im Saarland und in Mecklenburg-Vorpommern. 

Rot-rote Fragen

Besondere Aufmerksamkeit erhielt die Abstimmung in Sachsen-Anhalt, weil sich SPD und Grüne dort für das »Magdeburger Modell« entschieden, eine Minderheitsregierung, die von der PDS toleriert wurde. Das befeuerte die Diskussion über die Frage, ob die demokratischen Sozialist*innen an Regierungen beteiligt werden sollten. Und, mitunter noch kontroverser geführt, ob die PDS dies auch selbst für richtig halten würde. Bei der Bundestagswahl 1994 hatte die PDS bundesweit zwar die Fünf-Prozent-Hürde verfehlt, zog aber aufgrund von vier Direktmandaten in Gruppenstärke in den Bundestag ein. Ein paar Wochen vor den Wahlen hatte Rudolf Augstein im »Spiegel« einen Text über das »Mitgestalten« geschrieben: »Die Partei rackert, um sich ein neues Image zu verpassen, sich zu wenden«, hieß es da. Es gebe »bereits Nachwuchs von neuen, von jungen Leuten. Ihr Wahlkampf ist witzig, was man von dem der anderen Parteien nicht sagen kann«. Und Augstein formulierte auch so etwas wie westdeutsche Selbstkritik: »Nicht bemerkt haben wir, dass die PDS doch im Osten solide Basisarbeit geleistet hat.« Wenn nun selbst die »International Herald Tribune« eine »New Credibility« bei der PDS ausmache, befand Augstein, könne »man sie nicht mehr von vornherein in den Bundesländern von der Regierungsarbeit ausschließen«.

Die Kooperationsdebatte hatte auch im Landtagswahlkampf in Thüringen 1994 eine gewisse Rolle gespielt. Ein Treiber dafür waren die Zahlen der Umfrageinstitute. Die hatten vor der Abstimmung im Oktober ein Scheitern von Grünen und FDP an der Fünf-Prozent-Hürde als möglich erscheinen lassen – und das warf die Frage auf, wer in einem Drei-Parteien-Parlament miteinander regieren könnte. Würde die CDU von Ministerpräsident Vogel die absolute Mehrheit selbst erreichen? Würde die SPD zur Mehrheitsbeschafferin einer Großen Koalition? Oder würden die Sozialdemokraten die »neue Glaubwürdigkeit« der PDS zur Kenntnis nehmen und daraus politische Schlussfolgerungen ziehen? War Rot-Rot überhaupt schon denkbar?

Das Thema wurde im Wahlkampf mehr hin als her gewendet, die Thüringer Sozialdemokratie verwies gern darauf, dass die PDS noch nicht so weit sei. Gabi Zimmer, die Landesvorsitzende, sah darin bloß einen Vorwand: »Damit will die SPD verdecken, dass bei ihr die Verantwortung liegt. Sie muss entscheiden, ob sie eine wirkliche Wende in Thüringen will oder ob es ihr nur um das Stückchen Machtbeteiligung geht. Bisher habe ich den Eindruck, dass sie nur nach Teilhabe an der Macht strebt – egal, unter welchen Prämissen, egal, was für die Bevölkerung herauskommt.« An der PDS, so Zimmer weiter, werde es nicht liegen. Auf eine pauschale Zusage seitens der PDS könnten die Sozialdemokraten freilich nicht zählen. 

Fürs Erste sollte es auch dabei bleiben. Bei der Landtagswahl waren Grüne und FDP aus dem Landtag geflogen. Die SPD verbesserte sich und die CDU verlor leicht an Zustimmung. Allein regieren konnte Bernhard Vogel nicht mehr – und bald schon gab es nach dem Wahlabend erste Gespräche über eine Große Koalition. Auch in den Koalitionsverhandlungen habe die SPD die PDS als Druckmittel gegenüber der CDU genutzt, befand Gabi Zimmer seinerzeit. Sie hatte sogar die Tolerierung einer SPD-Minderheitsregierung für denkbar gehalten. Doch wenn auch manche Äußerungen als rot-roter Brückenschlag interpretiert werden konnte, bereit dazu waren die Sozialdemokraten dazu noch nicht. Zwar gab die damalige SPD-Landesvorsitzende Gisela Schröter ihren Genoss*innen zu bedenken, auch andere Varianten für die neue Thüringer Regierung zu diskutieren, als nur eine Große Koalition CDU-SPD. Doch das beschleunigte bloß ihre Abwahl als Thüringer Vorsitzende – ihr folgte der Spitzenkandidat und bisherige SPD-Fraktionschef Gerd Schuchardt selbst. Schröter, die seit 1990 für die SPD im Bundestag saß, hatte vor einem Ausverkauf sozialdemokratischer Interessen gewarnt. Wer sich allzu schnell an die Brust des eigentlichen Kontrahenten werfe, der gebe fahrlässig eigene Ideale preis, lautete eine ihrer Befürchtungen. 

Ähnlich sah man das auch in der PDS im Thüringer Landtag. Nicht nur Fraktionschef Roland Hahnemann sah der künftigen Konstellation mit Unbehagen entgegen. Auf der anderen Seite bestand nach der Landtagswahl vom 16. Oktober 1994 bei den Genoss*innen und Abgeordneten durchaus Grund zur Freude. Gegenüber der Landtagswahl 1990 hatte die PDS mit ihren für Parteilose offenen Listen einen deutlichen Zuwachs von 6,9 Prozentpunkten erreicht – sogar noch etwas mehr als die SPD. Ein Plus von fast 100.000 Landesstimmen sorgte für ein Zweitstimmenergebnis von 16,6 Prozent. Das war eine Zustimmung auf dem Niveau der Europawahlen vom Juni 1994. 

Ein weibliches Gesicht

Dass die PDS im Landtag nun die einzige Oppositionsfraktion stellte, bedeutete auf der einen Seite eine große Verantwortung. Auf der anderen Seite bot diese Rolle natürlich auch Vorteile. In der parlamentarischen Auseinandersetzung mit der Landesregierung sprachen nun vor allem die Stimmen der PDS. Dabei hatte sich nach den ersten vier Jahren im Parlament eine gewisse Routine eingestellt. »Ein Vorteil der noch kleinen linken Fraktionen der ersten beiden Legislaturperioden bestand darin, gemeinsam zu lernen und parlamentarische Erfahrungen zu erwerben«, so hat das Gabi Zimmer einmal im Rückblick formuliert. »Wir verfügten über flache Hierarchien, die schnellere Entscheidungen ermöglichten. Die inneren Arbeitsstrukturen waren überschaubar. Schon um fachliche Defizite auszugleichen und auch die Ausgrenzung der PDS vor allem außerhalb des Thüringer Landtages aufzubrechen«, so Zimmer, hätten »ausnahmslos alle Abgeordneten die enge Zusammenarbeit« mit unterschiedlichen sozialen und ökologischen Bewegungen sowie mit Bürgerinitiativen gesucht. 

Vor allem betont Zimmer die »besonders rege« Kooperation »mit verschiedenen Frauengruppen im Land, mit unabhängigen Fraueninitiativen und mit Trägerinnen von Frauenzentren, Frauenhäusern. Damals entstand auch unsere AG Weiberwirtschaft. Unser größter Vorteil im Vergleich zu anderen Landtagsfraktionen: Vom ersten Moment an waren bei uns Frauen stark vertreten. Mit jeder neuen Wahl kamen weitere hinzu. Die PDS hatte in Thüringen ein weibliches Gesicht.« Und hat dies bis heute. Das ist nicht etwa bloß eine Frage von Quoten oder den Frauenanteilen unter den Abgeordneten. Es geht um mehr, und nicht zuletzt in Thüringen hatte feministische Politik eine ganz umfassende gesellschaftspolitische Dimension. Sie war nötig gegen eine von der CDU dominierte Politik von gestern. »Die neuen Regierenden in Thüringen ließen damals kaum eine Gelegenheit aus, um zu demonstrieren, wie schnell sie ein völlig überlebtes Frauenbild wieder konservierten«, so Zimmer, die auch den ersten Gleichstellungsausschuss des Landtages leitete. »Die Mischung aus unverhülltem Machotum einiger CDU-Kollegen und einem völlig lebensfremden Bild des damaligen Ministerpräsidenten Bernhard Vogel, den die ostdeutschen Frauen offenbar überforderten, brachte nicht nur manche skurrile Rede im Landtag mit sich, sondern führte zu einem direkten Roll back vor allem der ökonomischen Unabhängigkeit von Frauen in Thüringen.« Und gegen diesen Rückschritt stand auch die PDS im Landtag. 

Der Landesverband der PDS feierte damals gerade seinen fünften Geburtstag – in den Gründungsräumen in der Eislebener Straße in Erfurt. Neben organisatorischer Konsolidierung und wahlpolitischen Erfolgen kamen auch immer neue Herausforderungen dazu. Im Juni 1995 hatte die Bundesregierung den Einsatz deutscher Soldaten in Bosnien beschlossen. Abgeordnete der PDS-Fraktion waren damals an vielen Antikriegsaktionen dabei – ob in Suhl oder Sondershausen. Im August des Jahres traten auf einer großen Kundgebung für den Frieden auf dem Erfurter Wenigemarkt der damalige DGB-Landesbezirksvorsitzende Frank Spieth, der Pfarrer Peter Franz, die Grüne Katrin Göhring-Eckardt und Gregor Gysi auf. Kurz darauf fand das inzwischen schon legendäre jährliche Friedensfest der PDS in Gera statt. 

Dass die PDS auf der Straße so aktiv ist wie im Landtag, gehört zweifelsohne zu den Gründen für den stetigen Erfolg in Thüringen. Und auch wenn die Themen bisweilen traurig waren und sind, gehören eine Portion Feiern und Spaß schon immer zu einem gelingenden Sozialismus. Im September 1995 organisierte die Landtagsfraktion zusammen mit dem Thüringer PDS-Vorstand die sogenannte Polistrade – bei der alternativen Kulturveranstaltung wirkten neben Künstlern wie Reinhold Andert, Matthias Biskupek und Christoph Theusner von Bayon auch Landtagsabgeordnete und PDS-Chef Lothar Bisky mit. »Die Bundesprominenz wird aus dem Stegreif Kabarett spielen«, meldete das ND. Der Künstler Jörn Luther wurde mit einem Preis namens »Polistradamus« ausgezeichnet. 1996 fand die zweite Ausgabe statt, »der Versuch, auf unterhaltsame Weise ernste politische Themen zu verhandeln«, wie es in Medien hieß. Auch diesmal wirkten wieder zahlreiche Abgeordnete der Thüringer PDS mit. Den Erlös der Veranstaltung erhielt der brasilianische Maler Rubens da Silva.

Nach der Landtagswahl 1994 wurde Ursula Fischer Vorsitzende der PDS-Fraktion. Die Ärztin war 1990 für die PDS in den Bundestag eingezogen und dort Parlamentarische Geschäftsführerin. Ende 1995 wechselte der Vorsitz der Thüringer Fraktion von Fischer zu Birgit Klaubert – »nach einer schwierigen Situation«, wie die Pädagogin einmal im Rückblick sagte. Ein Schwerpunkt auch für die PDS-Fraktion im Landtag blieb die Kommunalpolitik. Schon im Dezember 1995 hatte ein Landesparteitag Alternativvorschläge zu den bestehenden Verhältnissen in den Gemeinden und Städten Thüringens diskutiert und Leitlinien für eine linke Kommunalpolitik beschlossen. Nur wenige Monate später wurde nach der Abwahl des CDU-Bürgermeisters die Neuwahl in Hildburghausen notwendig – und dabei setzte sich der PDS-Kandidat Steffen Harzer durch. Der spätere Landtagsabgeordnete wurde so erster PDS-Bürgermeister in einer Kreisstadt in Thüringen. 

Alternative 54

Da mit der Wahl zum Zweiten Thüringer Landtag auch der Volksentscheid über die neue Verfassung des Freistaates zusammenfiel, ging es im Landtag bald auch schon wieder um Regelungen darin, die auf die Kritik der PDS-Fraktion gestoßen waren – zum Beispiel die automatische Diätenerhöhung. Die 1993 gegen die Stimmen der PDS-Fraktion verabschiedete Thüringer Landesverfassung bestimmt in Artikel 54 Absatz 2: »Die Höhe der Entschädigung verändert sich jährlich auf der Grundlage der jeweils letzten Festlegung nach Maßgabe der allgemeinen Einkommens-, die der Aufwandsentschädigung nach der allgemeinen Preisentwicklung im Freistaat.« 

Was das in der Praxis bedeutete? Im März 1995 waren die Abgeordneten-Diäten rückwirkend zum November 1994 um 2.000 auf über 7.000 D-Mark aufgestockt worden. Die damalige Parlamentarische Geschäftsführerin der PDS-Fraktion, Cornelia Nitzpon, sprach von einem »unverhältnismäßigen Anstieg«, der sich gegenüber den Bürger*innen des Landes nicht vertreten lassen. Schon im Februar 1995 hatte die PDS-Fraktion die Landesregierung aufgefordert, die Rechtmäßigkeit des Artikels 54 vom Bundesverfassungsgericht prüfen zu lassen. Im August kündigte die PDS-Fraktion an, die Verfassungsmäßigkeit der Thüringer Abgeordnetendiäten dem Landesverfassungsgericht vorzulegen. Vorschläge der SPD, 1995 eine Null-Runde einzulegen, wurden von der PDS-Fraktion zurückgewiesen: Das Problem des Automatismus werde so ja gar nicht beseitigt. Dazu müsse man schon eine Änderung des Artikels 54 der Landesverfassung erreichen. Nur so könne der »Selbstbedienungsmentalität einiger Thüringer Politiker« ein Riegel vorgeschoben werden, so Cornelia Nitzpon. 

Doch dafür fehlten in Thüringen die Mehrheiten. Die Abgeordneten der PDS-Fraktion gingen deshalb einen anderen, einen eigenen Weg – und auf diesem sind sie bis heute geblieben. 1995 wurde der Verein »Alternative 54« e.V. gegründet, der Name spielt auf den Artikel 54 der Thüringer Verfassung ab, in dem der Diätenautomatismus festgeschrieben ist. Seither spenden die Parlamentarier*innen von PDS und später der LINKEN als Vereinsmitglieder monatlich einen Teil ihrer Bezüge. »Wir unterstützen soziale Projekte und engagieren uns in den Bereichen Sport, Kultur, Bildung und Erziehung«, heißt es dazu beim Verein. Die Diätenerhöhungen der einzelnen Abgeordneten komme »damit vielen Menschen zugute, fördert das solidarische Miteinander in Thüringen und unterstützt die gesellschaftliche Entwicklung im Freistaat«. 

Und so gehen bis heute mal 350 Euro an den Seniorenverband Wartburgkreis, mal 400 Euro an das Heilpädagogische Jugendhilfe- und Ausbildungszentrum, mal 500 Euro an die Jenaer Nordschule zur Unterstützung ihres Mittelalterprojektes oder den Förderverein der Grundschule Westerengel, mal 450 Euro an die Jugendfeuerwehr Florian 1882 Nägelstedt. Die Beträge mögen auf den ersten Blick klein erscheinen. Aber sie zählen für die meist ehrenamtlichen Basisprojekte oft viel. Außerdem kommt im Laufe eines Parlamentarier*innen-Lebens jede Menge zusammen. Frank Kuschel zum Beispiel, der von 2004 bis 2019 für drei Legislaturperioden im Thüringer Landtag saß und die automatische Diätenerhöhung vollständig dem Verein Alternative 54 gespendet hat, kam in dieser Zeit auf rund 30.000 Euro, die an gemeinnützige Vereine in seinem Wahlkreis flossen. »Ich freue mich sehr, wie vielen Vereinen und Projekten die Alternative 54 e.V. in dieser langen Zeit bereits unter die Arme greifen konnte und ich bin immer wieder begeistert, das ehrenamtliche Engagement auch im Ilm-Kreis in unterschiedlichsten Bereichen auf diese Weise stärken zu können«. Der Verein steht grundsätzlich auch Abgeordneten anderer Fraktionen offen. Genutzt wurde diese Möglichkeit aber nicht, dennoch sind bis zum Sommer 2020 insgesamt knapp 1,5 Millionen Euro an Spenden der Landtagsabgeordneten von PDS und LINKE zusammengekommen.

Gegen das Sparpaket

Mit dem »Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung« setzte 1996 die Kohl-Regierung ein drastisches Sparpaket durch: Erhöhung des Rentenalters, Streichung von Zuschüssen an die Bundesanstalt für Arbeit, Vertagung der angekündigten Kindergeldaufstockung, Einschnitte bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und beim Kündigungsschutz und so fort. »Die Bundesregierung hat sich zum Büttel der Arbeitgeber gemacht«, zürnte der damalige DGB-Vorsitzende Dieter Schulte, IG-Metall-Chef Klaus Zwickel sprach von einem »Komplott für Arbeitslosigkeit und soziales Unrecht«. Nicht nur Gewerkschafter*innen meinten damals unisono: »Die Zeit des Handelns ist da.« Aber was genau sollte das heißen? Was war die politische Alternative? Waren angesichts der Mehrheitsverhältnisse in Bund und Ländern überhaupt andere, progressive Wege denkbar? 

Auch bei der PDS in Thüringen kommt das Thema alsbald in Fahrt. Politisch steht unter anderem »Mieten und Wohnen« im Zentrum der Aktivitäten. Im März 1995 lief eine landesweite Kampagne, für die sich die Abgeordneten rege engagierten. In allen Kreisen und Städten des Landes Thüringen werden Diskussionsrunden organisiert, an Informationsständen 300.000 Mieterzeitungen verteilt. Die PDS-Fraktion holt Expert*innen und Betroffene für eine große Anhörung im Landtag zusammen. Die Aktionstage sind keine Eintagsfliege, schon im April 1995 folgt eine groß angelegte Landtour der PDS-Fraktion in Nordthüringen, gemeinsam mit dem Landesvorstand ausgerichtet, stehen insbesondere wirtschafts- und wohnungspolitische Fragen auf der Tagesordnung. Im Frühsommer diskutieren bei einer Städtetour unter anderem durch Weimar, Ilmenau, Gera, Suhl, Altenburg und Greiz linke Landespolitiker*innen und PDS-Bundesprominenz mit Bürger*innen vor allem über soziale Grundsicherung, den Erhalt von Arbeits- und Ausbildungsplätzen und über alternative Kommunalpolitik. 

Es ist auch die Bundespolitik mit ihren Sozialkürzungen, die neue Kooperationen erzwingt. Die Bundestagswahl von 1994 hatte gezeigt, dass ein Politikwechsel nicht einfach so aus dem »alten politischen System« heraus möglich sein würde, sondern es dafür progressive Bündnisse braucht. Thüringen wird hier zum Vorreiter. Zum 1. Mai 1996 findet dort erstmalig in Ostdeutschland eine landesweite Veranstaltung anlässlich des traditionellen Aktionstages statt, an der sich DGB, PDS und SPD gleichberechtigt an der Vorbereitung und Durchführung beteiligen. Tausende Menschen demonstrierten gegen Sozialabbau. Engagement gegen die Kürzungspolitik der Kohl-Regierung macht damals auch bundesweit Schlagzeilen. Vor allem die Großdemonstration des DGB mit 300.000 Teilnehmer*innen in Bonn ist im Gedächtnis geblieben. Im September geht es weiter – mit Großdemonstrationen gegen Sozialabbau und Ausgrenzung. Auch dort sind mehrere tausend Thüringer*innen dabei. 

Politisch war mit den Massenprotesten die Frage nach Alternativen zu den CDU-geführten Regierungen auf die Tagesordnung gesetzt worden – sowohl auf Bundesebene als auch in Thüringen selbst. Im Freistaat suchte die PDS damals im Zuge der Debatte über ein »Linkes Reformprojekt« nach passenden Antworten. Der Startschuss dafür fiel auf einer Klausurberatung des Landesvorstandes und der PDS-Fraktionsspitze in Elgersburg, die dazu eine Erklärung verabschiedeten. »Es ging darin um einen möglichen Politikwechsel, über den in der Folgezeit mit Sozialverbänden, Vereinen, Gewerkschaften, Vertreter*innen der Wirtschaft und KünstlerInnen das Gespräch gesucht wurde. Schrittweise wurde auch eine Diskussion mit SPD und Bündnis 90/Die Grünen möglich«, so haben dies Dieter Hausold und Knut Korschewsky rückblickend beschrieben. Auf Parteitagen im Dezember 1996 in Weimar und im April 1997 in Erfurt gingen die Debatten weiter. Ein Ziel lautete: »Potenzial für gesellschaftliche Alternativen stärken«. Und eben dieses Potenzial zeigte sich damals auch in der »Erfurter Erklärung«, die ein bundesweites Signal setzte – auch was die Kooperation unter den Parteien des Mitte-Links-Spektrums und die gesellschaftlichen Bündnispartner*innen dafür anging. Auch die PDS-Landtagsfraktion war Unterstützerin in jenem politischen Prozess, der sich rund um den überparteilichen Aufruf für ein sozialeres und demokratischeres Land entwickelte.

Die Erfurter Erklärung

»Die PDS ging mit der Vorstellung in die Öffentlichkeit, ein ›linkes Reformprojekt‹ anzuschieben, das auf die Veränderung der Parteinahme des Staates hinzielt – weg von der Lobby für jene, die die Millionen einfahren, hin zu denen, die um ihre Existenz bangen und ringen. Weg von der Lobby für die Finanzspekulanten, hin zur wertschöpfenden Arbeit. Weg von der Lobby für den Zentralstaat, hin zur selbstbestimmten Existenz in bürgerbewegten Kommunen«, so äußerte sich Gabi Zimmer damals. Die PDS brach aus »dem drohenden Korsett« aus, »das letztendlich allein auf die Fragestellung: Koalieren – Tolerieren – Opponieren hinauslief«. Es ging nun immer öfter um konkrete Verantwortung, um wirkliche Projekte alternativer Politik. Und um Partnerschaft. Bei der »Suche nach tatsächlichen Alternativen zum jetzigen Bonner und Erfurter Kurs auf eine andere Republik« schien freilich nicht nur für Zimmer, die Anfang 1997 auch zur stellvertretenden PDS-Bundesvorsitzenden gewählt worden war, damals vor allem bei den Sozialdemokraten noch Vieles »taktischem Kalkül untergeordnet zu sein. Das ist bedauerlich, da eine reine Reduzierung auf die Arithmetik von Parlamentssitzen einen möglichen Wechsel in Erfurt verhindern wird.« Die Landesvorsitzende vermerkte zugleich aber »trotz dieser kritischen Sicht auf die Rolle der SPD innerhalb der Großen Koalition«, dass mit Richard Dewes, der seit 1996 Landesvorsitzender der SPD war, »ein unverkrampfterer Umgang« zwischen beiden Parteien möglich geworden sei, dass »beide Parteien auf kommunaler Ebene durchaus zusammenarbeiten, allmählich auch gegenseitige Akzeptanz ›von unten‹ wächst«.

Das entsprach ganz der »Erfurter Erklärung«, in der sich im Januar 1997 knapp 40 Künstler*innen, Intellektuelle, Gewerkschafter*innen und Politiker*innen für mehr soziale Gerechtigkeit und einen Politikwechsel durch engere Zusammenarbeit von SPD, Grünen und PDS ausgesprochen hatten. Bis Herbst 1997 unterschrieben 46.000 Bürger*innen in Ost und West den Appell mit ihrem Namen. Zu den Erstunterzeichner*innen gehörten Bodo Ramelow und Frank Spieth, beide in Thüringen aktive Gewerkschafter und beide später für die PDS und die LINKE engagiert. Auch der Erfurter Propst Heino Falcke und der Weimarer SPD-Bundestagsabgeordnete Edelbert Richter gehörten zu den Initiator*innen. »Die regierende Politik in unserem formal vereinten Land ist in einem Zustand von gnadenloser Ungerechtigkeit, Sozialverschleiß und fehlenden Perspektiven versunken«, mit diesen Worten begann damals die »Erfurter Erklärung«. Gebraucht werde »eine Opposition, die den Wechsel mit allen Kräften will. Sie kann nur aus den bisher getrennten Oppositionskräften entstehen« – es gehe um »eine andere Regierung. Ein neuer gesellschaftlicher Aufbruch kann die Mehrheit in Bonn und für Berlin verändern.« 

Und in Thüringen? Die Landes-PDS und mit ihr die Abgeordneten des Landtags versuchten, so Gabi Zimmer, »ihrerseits eine politische Antwort auf die ›Erfurter Erklärung‹ zu geben und zugleich ihr eigenes Angebot für das Zustandekommen eines linken Reformprojektes zu untersetzen.« Wenn zu den Landtagswahlen 1999 in Thüringen andere Mehrheiten zustandekommen sollten, das war damals jeder und jedem klar, »dann müssen jetzt überzeugende Alternativen auf den Tisch, um vor allem jene von der Politik des Sozialabbaus, der Demokratieverweigerung Betroffenen, Menschen, die ohne Arbeit und Ausbildung sind, aus der Apathie, dem Gefühl, am Abgrund zu stehen, zu lösen und zum Handeln zu animieren. In diesem Sinne geht es wirklich um mehr als um einen bloßen Regierungswechsel.« 

Der 1. Mai 1997 konnte dafür mindestens symbolisch ein Zeichen setzen. Auf dem Erfurter Anger fand erneut eine gemeinsame Maiveranstaltung von DGB, PDS, SPD und Bündnis 90/Grünen statt. »Was vor zwei Jahren noch als unmöglich angesehen wurde, ist zur Normalität geworden. In mehreren Kreisstädten gibt es gemeinsame Veranstaltungen«, so der PDS-Politiker Knut Korschewsky. Im Herbst 1997 wurde diese Debatte in Erfurt bei einem Kongress der »Erfurter Erklärung« fortgeführt, zu dem auch die Thüringer PDS beitrug, ein Frauenaktionstag mobilisierte Unterstützung. 

Der Fall Saalfeld

Bevor die Thüringer Politik jedoch auf den Kurs Richtung Wahlkampf 1999 einschwenken konnte, sorgte zunächst ein umstrittener Polizeieinsatz gegen eine antifaschistische Demonstration in Saalfeld im Oktober 1997 für heftige Auseinandersetzungen. Die Aktion war getragen von einem breiten Bündnis aus Gewerkschaften, Kirchenvertreter*innen, der PDS und antifaschistischen Aktionskreisen, die mit der Aktion ein Zeichen gegen den immer stärker aufkommenden Rechtsradikalismus und den grassierenden Rassismus setzen wollten. Auch die CDU-Politikerin Christine Lieberknecht stand auf der richtigen Seite. Doch die Demonstration wurde kurzfristig durch das Innenministerium verboten – in dem SPD-Mann Richard Dewes den Hut aufhatte. »Mit einem noch nie dagewesenen Aufgebot von Polizei und Bundesgrenzschutz wird verhindert, dass Antifaschistinnen und Antifaschisten trotz Verbot nach Saalfeld reisen. Mehr als 400, meist jugendliche Menschen werden verhaftet und in der ehemaligen Untersuchungshaftanstalt Unterwellenborn unter fast unmenschlichen Bedingungen, teilweise mehr als 24 Stunden, festgehalten«, so heißt es in der Chronik des PDS-Landesverbandes. 

Ähnliches berichteten damals die Zeitungen. »Nach Leibesvisitationen auf dem Bahnhofsvorplatz wurden sie wie Schwerverbrecher in Handschellen in eine ehemalige Haftanstalt nach Unterwellenborn gebracht. Verhaftungen erfolgten auch in Gera und anderen Orten.« Das parteilose Mitglied der Thüringer PDS-Landtagsfraktion, Landtagsvizepräsident Roland Hahnemann, bezeichnete die Polizeiaktion als »das Ende der Demokratie«. Der PDS-Landtagsabgeordnete Steffen Dittes kündigte seinerzeit ein parlamentarisches Nachspiel an. So fand im November 1997 unter anderem eine Anhörung im Landtag statt. Im Plenarsaal »erhoben Betroffene schwere Vorwürfe gegen die Polizei und die verantwortlichen Politiker«, berichtete das »ND«. Die Antifaschist*innen behielten selbstverständlich die Köpfe oben. Im Frühjahr 1998 rief Aktionsbündnis unter Beteiligung der Thüringer PDS erneut zu einer Demonstration gegen Rechtsextremismus und Gewalt in Saalfeld auf – mehreren tausend Menschen schlossen sich trotz neuerlicher Behinderungen durch die Polizei an.

Die beiden letzten Jahre der zweiten Thüringer Legislaturperiode standen zwar in einem bundespolitischen Licht, immerhin deutete sich schon Anfang 1998 an, dass eine rot-grüne Regierung die bleiernen Kohl-Jahre beenden könnte. Es gab viel Hoffnung auf einen Wechsel in Bonn, der mehr als nur einen Austausch der Regierungsparteien bringen mochte. Dass sich Gerhard Schröder und die SPD im Herbst 1998 durchsetzten, war aber nur das eine. Aus Sicht vieler wurde die Chance auf einen wirklichen Politikwechsel damals vertan, woran auch anfängliche Korrekturen der schwarz-gelben Hinterlassenschaften nichts änderten. Die PDS zog erstmals in Fraktionsstärke in den Bundestag ein – aus Thüringen saßen fortan Ruth Fuchs, Gerhard Jüttemann, Rosel Neuhäuser, Carsten Hübner und Kersten Nauman mit im Parlament. Die Thüringer PDS-Fraktion machte freilich zuallererst Thüringer Politik – etwa im Rahmen einer Aktionswoche in der Südwestregion im Frühjahr 1998. Nachdem es im Dezember einen Stabwechsel an der Landesspitze gegeben hatte, Dieter Hausold übernahm das Ruder von Gabi Zimmer, die acht Jahre erfolgreiche Arbeit geleistet hatte, rückten dann schon wieder Landtagswahlen ins Blickfeld. Im Februar 1999 wurden erste Ideen in einer Wahlwerkstatt in Erfurt diskutiert, ein Landesparteitag beschloss kurz danach das Wahlprogramm, ein Vorschlag für die Landesliste folgte. Im März wurden im Erfurter »Kaisersaal« Gabi Zimmer, Bodo Ramelow und Birgit Klaubert ganz nach vorn platziert, mit Mike Huster und Katja Wolf rückten damals auch zwei jüngere Kandidat*innen auf Spitzenplätze. 

Rückenwind für die Abstimmung im September brachten die Ergebnisse bei den Europawahlen, bei denen die PDS in Thüringen ihre Ergebnis auf über 20 Prozent verbessern konnte, und die Kommunalwahlen, bei denen ebenfalls der Stimmenanteil gegenüber 1994 gewachsen war. Bei Umfragen schien es einige Wochen vor der Abstimmung zunächst auch so, als könnten SPD und PDS die seit 1990 regierende CDU gemeinsam überrunden. Doch je näher die Wahl rückte, desto mehr deutete sich an, dass die Partei von Ministerpräsident Bernhard Vogel doch die Oberhand behalten könnte. 

Schmerzliche Verluste

In jenem Wahljahr hatte die Thüringer PDS zwei schmerzliche Verluste hinzunehmen. Plötzlich und für alle unerwartet verstarb nur wenige Tage vor der Abstimmung der PDS-Landtagsabgeordnete Peter Dietl, der seit dem Anfang im Oktober 1990 in der Fraktion mit dabei war und in der zweiten Legislaturperiode als stellvertretender Fraktionsvorsitzender amtierte. Mit dem erst 57-Jährigen Dietl, so kondolierte Birgit Klaubert, die seit 1995 die PDS-Fraktion führte, verliere man einen einfühlsamen Genossen, der weit über die Fraktion hinaus anerkannt und geachtet gewesen sei. Gabi Zimmer, die Dietl 1990 kennengelernt hatte, hat auch seine politische und persönliche Ehrlichkeit gewürdigt, seine Weitsicht und Vision. »Wer in der Politik etwas bewegen will, der muss zuhören können und selbst um Sachlichkeit bemüht sein«, schrieb sie in einem Buch, mit dem die Fraktion Dietls Engagement würdigte. Neun Jahre hatte der Mann, der vor der Wende selbst zwei Dekaden in der Thüringer Kali-Industrie gearbeitet hatte, im Landtag für die PDS gewirkt: als Innen- und Kommunalpolitiker, als Wohnungspolitiker und im Petitionsausschuss, als »ein Mann des Mitgefühls, des Takts«, wie es Klaus Höpcke in seiner Trauerrede in Sondershausen formulierte.

Schon Anfang Mai 1999 war der Mitbegründer des Landesverbandes und langjährige Thüringer PDS-Vize Peter Strützel nach schwerer Krankheit verstorben – einer der Vordenker des »Thüringer Wegs«. Strützel, so schreibt es Paul Wellsow in einem 2020 erschienenen Sammelband zu dessen Ehren, habe nach der Wende entscheidend dazu beigetragen, die PDS als eine neue Partei »von unten« zu formen und sie »wieder zu einem legitimen und demokratischen Akteur gesellschaftlichen und politischen Lebens zu machen«. Mit dem Namen Strützel sind auch die Debatten um ein »linkes Reformprojekt« für Thüringen verbunden, die Idee gemeinsamer linksreformerischer Politik von PDS, SPD und Grünen. Hier wurde schon Mitte der 1990er Jahre »vieles von dem vorweg« genommen, »was 20 Jahre später in der ersten rot-rot-grünen Landesregierung sichtbar und Realität wurde«, so Wellsow. »Strützels Credo war: Ideen, Konzepte und Strategien im Dialog mit denen zu entwickeln, die ein vitales Interesse daran haben, die bestehenden Verhältnisse zu ändern, um ihr eigenes Leben zu gestalten.« Dies war auch für eine Partei wie die PDS eine Herausforderung, »nicht bloß kommentierend am Rand zu stehen, sondern sich ins gesellschaftliche Handgemenge zu begeben und die Gesellschaft aktiv mitzugestalten«.

Am 12. September 1999 erreicht die PDS in Thüringen mit 22,3 Prozent der Erststimmen und 21,4 Prozent der Zweitstimmen das bisher beste Ergebnis bei Landtagswahlen. Die SPD stürzt ab – an ihr zieht nicht nur das Gewicht der Bilanz der Regierungsbeteiligung im Freistaat, wo die CDU in eine ganz andere Richtung strebt. Die Sozialdemokraten bekommen auch die ersten Enttäuschungen über den Kurs der Bundes-SPD zu spüren, nicht zuletzt wegen des Kosovokriegs, in dem im März 1999 erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg deutsche Soldaten an einem Kampfeinsatz teilnehmen, für den es kein UN-Mandat gibt. Die PDS hatte im Wahlkampf nicht an friedenspolitischen Aktionen gespart. 21 Abgeordnete ziehen für sie in den Thüringer Landtag ein: Gabi Zimmer, Bodo Ramelow, Birgit Klaubert, Mike Huster, Katja Wolf, Joachim Koch, Isolde Stangner, Werner Buse, Tamara Thierbach, Konrad Scheringer, Heide Wildauer, Roland Hahnemann, Christiane Neudert, Michael Gerstenberger, Ursula Fischer, Steffen Dittes, Cornelia Nitzpon, Tilo Kummer, Karin Kaschuba und Maik Nothnagel bilden ab Herbst 1999 die zweitstärkste Fraktion im Landtag.

Kapitel 9

Der Blumenstrauß

Vom Tabubruch in die Corona-Krise: Die Linksfraktion nach den Landtagswahlen 2019

Es ist kurz nach 18 Uhr an diesem Sonntag Ende Oktober, und im Erfurter Zughafen laufen die ersten Zahlen dieses Wahlabends ein: Ein vielstimmiges erstauntes Oh ist zu hören, als die Prognose nur gut 22 Prozent für die CDU anzeigt, abgelöst von frenetischem Jubel, als der Balken für die Linkspartei auf über 29 Prozent in die Höhe steigt. Und dann werden die 24 Prozent der rechtsradikalen AfD mit einem lauten Buh quittiert. Hier hat sich gerade Historisches zugetragen, etwas, das über Thüringen hinaus noch Wellen schlagen wird, soviel ist schon kurz nach Schließung der Wahllokale im Freistaat sicher. Wie groß diese Wellen sein werden, ahnt zu diesem Zeitpunkt aber wohl noch niemand. 

»Was wir erreicht haben, ist grandios«, freut sich Susanne Hennig-Wellsow. Im Laufe des Abends wird das LINKEN-Ergebnis noch bis auf 31 Prozent wachsen. Ein beispielloser Wahlerfolg. Ein Erfolg, für den zu einem beträchtlichen Teil ein Name steht: Bodo Ramelow. Der linke Spitzenkandidat »schneide bei Leistungsbilanz und Ansehen deutlich besser ab als CDU-Ministerpräsidenten des Landes vor fünf oder zehn Jahren; die meisten Thüringer wünschten sich Ramelow weiter als Regierungschef«, verlautet eine erste Analyse von Wahlforscher*innen. Der Thüringer Ministerpräsident kommt etwas später mit seiner Frau und seinem Hund Attila in den Zughafen, die Gäste der Wahlparty bilden ein Spalier und applaudieren begeistert. »Ich sehe mich ganz klar bestätigt. Bei dem Zustimmungswert, den meine Partei bekommen hat, ist der Regierungsauftrag klar bei meiner Partei. Und ich werde diesen Auftrag auch annehmen«, das wird Ramelow an diesem 27. Oktober 2019 wieder und wieder sagen. Im Zughafen fragt die Landes- und Fraktionsvorsitzende Hennig-Wellsow: »Gewinnen fetzt, oder?« Und der Ministerpräsident antwortet: »Wir rocken, und das weiterhin!« Nicht nur die Bundeschefin der Linkspartei, Katja Kipping, nimmt das ganz wörtlich: Es wird ausgelassen getanzt an diesem erfolgreichen Abend.

Erstmals stärkste Kraft in einem Bundesland, erstmals über 30 Prozent: Dass die LINKE und Ramelow bei gehörigem Abstand vor den Mitbewerber*innen und der Konkurrenz einen Regierungsauftrag der Wähler*innen bekommen hat, steht außer Frage. Einerseits. Andererseits wird schon bald klar, dass Thüringen vor einer äußerst schwierigen Regierungsbildung steht. Rot-Rot-Grün hat keine eigene Mehrheit im Landtag. An ein mögliches Bündnis zwischen demokratischen Sozialisten und der Landes-Union will zumindest vorerst niemand wirklich denken. Und Koalitionen mit der AfD sind von allen anderen Parteien ausgeschlossen worden. Auch bei der LINKEN-Abgeordneten Birgit Keller ist die Stimmung »wirklich gut«, sie hat wie Katja Mitteldorf in Nordthüringen ein Direktmandat für die Partei geholt. Dass sie sich »ein stärkeres Ergebnis für Rot-Rot-Grün gewünscht hätte, also vor allem für SPD und Grüne«, verhehlt Keller im Interview mit dem »nd« nicht. »Nun muss man sehen, wie man damit umgeht.« Sie sieht hier »eine hohe Verantwortung, der sich LINKE, SPD, Grüne, CDU und FDP gleichermaßen stellen müssen«. Möglicherweise müssen die Parteien »ganz neue Wege beschreiten«, heißt es am Tag nach der Wahl in einer Zeitung. 

Ganz neue Wege

Wie so oft allerdings, wenn Politik gezwungen ist, ausgelatschte Pfade zu verlassen, wird das kein einfacher Spaziergang. Dass die Thüringer Verfassung dem Ministerpräsident und der gesamten Landesregierung erlaubt, »die Geschäfte bis zum Amtsantritt ihrer Nachfolger fortzuführen«, also kommissarisch im Amt zu bleiben, sorgt für Stabilität und Zeit. Neue Wege möchten schließlich gut bedacht sein. »Die Verhältnisse in Thüringen sind eindeutig, die Landesregierung ist handlungsfähig«, sagt Bodo Ramelow. Und dann: »Lasst uns doch auch mal ausloten, was es an gemeinsamer Kraft im Parlament gibt.« 

Damit ist ein Fingerzeig auf eine Variante gegeben, die schon vor der Wahl diskutiert worden war: die Möglichkeit einer Minderheitsregierung, die sich im Landtag für Projekte eine Mehrheit bei anderen demokratischen Fraktionen sucht. Sicher, Minderheitsregierung – das klingt ein bisschen nach Notstand und defizitärem Antlitz. Aber Politexpert*innen, die schon lange darüber nachdenken, sagen, »die Etablierung eines Modells«, bei dem eine Minderheitsregierung wirklich als »Kooperationsregierung« agiert, ist nicht nur möglich, so benannt würde auch »ihre Rolle als Kompetenzzentrum für eine fortschrittliche Politik und Dienstleister des Parlaments« hervorgehoben und gezeigt, »auf welche Weise institutionelle Vetopunkte und parteipolitische Blockaden überwunden werden können«. Aber Begriffe sind auch nur das eine.

»Alle Demokraten müssen in der Lage sein, miteinander zu sprechen«, sagt Bodo Ramelow. Als »außergewöhnlich hoch« wird denn auch bald eine Zeitung die Zahl der politischen Gespräche beschreiben, »die in Thüringen in diesen Tagen und in den nächsten Wochen und Monaten stattfinden«. Umfragen deuten an, dass eine linksgeführte Minderheitsregierung oder ein Bündnis der Linkspartei mit der CDU die meiste Zustimmung im Freistaat hätten. Doch hier liegen viele Knackpunkte: Vor allem die Bundes-CDU macht schnell klar, dass sie eine Kooperation des Landesverbandes mit der LINKEN ablehnt. Das taktisch nicht eben geschickte Vorgehen von CDU-Spitzenkandidat Mike Mohring macht die Sache nicht einfacher. Stimmen wie jene des Eichsfelder CDU-Landrates Werner Henning für Gespräche seiner Partei mit der LINKEN sind das eine. Ein Appell von ein paar Thüringer Lokalpolitikern zu Gesprächen mit der AfD verweist darauf, dass es da noch etwas anderes in der Union gibt – etwas Gefährliches. 

Im November sprechen LINKE, SPD und Grüne in Erfurt darüber, wie Rot-Rot-Grün in Thüringen trotz fehlender Mehrheit fortgesetzt werden kann – dem Dreierbündnis fehlen im Landtag vier Stimmen. Was dabei auf den Tisch kommt, ist mitunter kontrovers. Kein Wunder, nach diesem Wahlausgang. Anfang November 2019 wird Susanne Hennig-Wellsow als Fraktionsvorsitzende der LINKEN wiedergewählt, zu Stellvertreter*innen werden Katja Mitteldorf und Ronald Hande bestimmt. André Blechschmidt geht in eine weitere Amtszeit als Parlamentarischer Geschäftsführer. Und es steht einiges an, nicht nur die schwierige Regierungsbildung. Unter den 29 linken Abgeordneten sind etwa ein Drittel »Neulinge«; einen wirklich einfachen Start in die parlamentarische Arbeit gewähren ihnen die Umstände nicht gerade. Aber die politische Arbeit geht weiter: Kritik am Verfassungsschutzbericht, Aufdeckung von rechtsextremistischen Strukturen, Engagement gegen Sexismus, Unterstützung von Studierenden, die gegen die Klimakrise protestieren, Werben für einen neuen Winterabschiebestopp. Und das sind nur einige der Themen, um die sich die Fraktion im Winter 2019 kümmert.

Am 26. November wird Birgit Keller zur Landtagspräsidentin gewählt, 52 von 90 Abgeordneten votieren für sie, zehn Stimmen mehr als die rot-rot-grünen Fraktionen zusammen haben. Auch hier steckt Historisches drin: Keller ist die erste Parlamentschefin der LINKEN. Und die Aufgabe ist unter den neuen Thüringer Verhältnissen nicht ohne: »Wir sind überzeugt, dass sie die nun anstehenden schwierigen Diskussionsprozesse und vielschichtigen Arbeitsabläufe erfolgreich koordinieren und moderieren wird«, sagt die Linksfraktionschefin Hennig-Wellsow. Knapp drei Wochen später kommt die LINKE zu einem Landesparteitag zusammen – das Ziel wird bekräftigt: Thüringen soll sozialer, demokratischer, ökologischer werden. Dass es Kontroversen um das Wort »Volkspartei« in einem Initiativantrag gibt, gehört dazu. Dass Susanne Hennig-Wellsow bei der Wiederwahl als Landesvorsitzende ein besseres Ergebnis erhofft hatte, ist auch kein Geheimnis.

Mitte Januar 2020, es hat inzwischen auch ein Treffen von Rot-Rot-Grün mit Vertreter*innen von CDU und FDP gegeben, steht der Koalitionsvertrag. Ein Papier, das Projekte beschreibt und eine mögliche Zukunft Thüringens. Von offenen Türen in Richtung der Union ist die Rede, deren Landtagsfraktion befindet nach einer Klausurtagung, »dass wir bei 22 Themen konstruktive Arbeit leisten und keine Fundamentalopposition betreiben werden«. Was in jenen Wochen oft technisch klingt, weil sogleich die parlamentarischen Hürden angesprochen werden, hat es inhaltlich durchaus in sich. In den Medien wird viel über Konstellationen gesprochen. Oder über Versuche der CDU, die anstehende Wahl von Bodo Ramelow mit juristischen Spitzfindigkeiten zu diskreditieren. »Gemeinsam neue Wege gehen« lautet der Titel des Koalitionsvertrages. Einerseits prägt Kontinuität den Tenor, die Fortsetzung von Rot-Rot-Grün unter neuen Bedingungen will nicht zuletzt das in der vergangenen Legislatur Erreichte verteidigen. Neuerdings geht es auch darum, Brücken in Richtung der nötigen Mehrheiten jenseits der drei Parteien zu bauen. Andererseits verlangen neue Zeiten auch nach neuen Klängen. Und so finden sich eine ganze Reihe von progressiven Akzenten, es geht unter anderem um Strukturwandel und Transformation, um die Fortsetzung der bildungspolitischen Reformen, um ökologischen Umbau, soziale Verbesserungen und vieles mehr. Rund 95 Prozent Zustimmung erhält der Koalitionsvertrag in einer Mitgliederbefragung der LINKEN. Am 27. Januar 2020 reichen die Fraktionen von LINKEN, SPD und Grünen gemeinsam im Landtag die Drucksache 7/204 ein. Der Antrag hat nur eine Seite: »Gemäß Artikel 70 Abs. 3 der Verfassung des Freistaats Thüringen in Verbindung mit § 47 der Geschäftsordnung des Thüringer Landtags wird der Abgeordnete Bodo Ramelow für die Wahl zum Ministerpräsidenten des Freistaats Thüringen vorgeschlagen.« Die Abstimmung wird für den 5. Februar 2020 angesetzt. 

»Pakt mit Faschisten«

Es war viel spekuliert worden vor diesem denkwürdigen Mittwoch, in welchem Wahlgang Bodo Ramelow welches Ergebnis würde erreichen können. Es ist auch viel darüber nachgedacht worden, was alles bei dieser Ministerpräsidentenwahl passieren könnte. Was dann kurz nach 13 Uhr im Erfurter Landtag geschieht, sprengt aber den Rahmen der schlimmsten Befürchtungen: In der dritten Abstimmungsrunde gewinnt der FDP-Politiker Thomas Kemmerich 45 Stimmen und damit eine mehr als der bisherige Amtsinhaber. Damit hat sich ein Freidemokrat von der rechtsradikalen AfD wählen lassen. Fassungslosigkeit herrscht auf der linken Seite des Plenums. Die LINKE-Landtagsabgeordnete Katharina König-Preuss twittert kurz nach diesem Fanal: »FDP und CDU sind heute einen Pakt mit Faschisten der Höcke-AfD eingegangen.« Von einem Dammbruch wird bald die Rede sein. Thüringen wird von FDP, CDU und den Antidemokraten in eine tiefe demokratische Krise gestürzt.

Bodo Ramelow wird die Wahl Kemmerichs später als »widerliche Scharade« bezeichnen, die »offenbar gut vorbereitet« war. Denn ein solcher Ausgang war zwar von vielen nicht für denkbar gehalten worden, möglich war er gleichwohl und das hatten auch jene in CDU und FDP wissen müssen, die dieses Spiel mitmachten. Susanne Hennig-Wellsow spricht später von einem »Putsch von rechts«. Für Gregor Gysi ist »die Wahlallianz von FDP, CDU und Höckes AfD ein Kulturbruch in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Ich bin aufrichtig erschüttert, dass dies möglich war und erstmals an Zeiten in der Weimarer Republik erinnert, übrigens genau vor 96 und vor 90 Jahren in Thüringen«. Damit spielt der langjährige Spitzenpolitiker der Linkspartei auf die Geschichte des Freistaates an. »Es ist ein Tabubruch, so wie 1924, als in Thüringen erstmals völkische Abgeordnete einer bürgerlichen Regierung zur Mehrheit verhalfen. Die sogenannte Brandmauer zur extremen Rechten, die zuletzt so oft beschworen wurde: Sie hat wieder nicht gehalten«, schreibt Martin Debes in der »Thüringer Allgemeinen«.

Jener Mann, der da mit rechtsradikaler Hilfe ins Amt kam, hätte es in der Hand gehabt, in letzter Minute jene viel zitierte Brandmauer doch noch wirksam zu machen. Doch Kemmerich nimmt im Landtag die Wahl an. Kurz darauf geht die LINKEN-Fraktionschefin in seine Richtung – und es entsteht das Bild jenes Tages, es wird zum Symbol: Susanne Hennig-Wellsow wirft Kemmerich einen Strauß Blumen vor die Füße. »Das Gesicht, das ich selbst nie vergessen werde, war das meines Mitarbeiters Steffen. Er drückte mir den Blumenstrauß in die Hand, der ja eigentlich für Bodo bestimmt war. In seinen Augen lag Entsetzen! Darüber, dass ich jetzt einem Ministerpräsidenten von Gnaden der AfD die Blumen übergeben muss«, so hat sie diesen Moment später beschrieben. Sie habe in dieser Sekunde keine Ahnung gehabt, »was ich mit den Blumen tun würde. Ich wusste nur, dass ich sie Kemmerich nach diesem Pakt der FDP mit dem Faschismus ganz sicher nicht überreichen würde. Dass ich sie dann warf, verstehe ich im Nachhinein als Akt des zivilen Ungehorsams gegen den Faschismus innerhalb des Parlaments.« Man dürfe »einem Tabubruch nicht mit der Einhaltung des Protokolls begegnen«.

Der Tabubruch von Thüringen, auch das gehört zu dieser Geschichte, mobilisiert binnen weniger Stunden Abertausende nicht nur im Freistaat. Von Ausnahmen abgesehen – eine davon heißt Christian Hirte, CDU-Politiker und Ostbeauftragter der Bundesregierung – wird die Wahl Kemmerichs bundesweit scharf kritisiert. Hirte steht ziemlich allein mit seinem Glückwunsch-Tweet an den FDP-Mann, den er auch noch einen »Kandidaten der Mitte« nennt – Hirte wird kurz darauf zum Rücktritt von seinem Beauftragten-Amt gedrängt. Seine »Bitte um Entlassung« sei auf »Anregung der Bundeskanzlerin« erfolgt, heißt es dazu. Angela Merkel weilt damals in Südafrika, einen Tag nach dem Erfurter Fanal sagt sie: »Die Wahl dieses Ministerpräsidenten war ein einzigartiger Vorgang, der mit einem Grundsatz gebrochen hat, nämlich dass keine Mehrheiten mit der AfD gebildet werden.« Auch die Kanzlerin nennt den ganzen Vorgang »unverzeihlich« und erklärt, das Ergebnis müsse »wieder rückgängig gemacht werden«.

All jenen, »denen die Demokratie am Herzen liegt und die nicht bereit sind, sich Rechtspopulisten zu beugen oder sich mit Nazis zu arrangieren«, so schreibt das »nd« am Tag nach dem Fanal, »kann man nur zurufen: Empört euch! Auf der Straße, in der Nachbarschaft, im Kollegenkreis, bei der vielleicht bald wieder stattfindenden Thüringer Landtagswahl: Empört euch, laut und öffentlich!« Und das tun die Menschen, viele, sehr viele. Noch am Abend des 5. Februar 2020 finden überall spontane Demonstrationen statt. In Thüringen versammeln sich Menschen vor der Staatskanzlei, in Jena sind es rund 2.000. In Berlin, Hamburg oder München gehen Menschen ebenfalls gegen den Rechtsputsch auf die Straße. Und auch das gehört dazu: Die Linkspartei meldete bundesweit einen Boom bei den Neueintritten; Dutzende Menschen nehmen die Kemmerich-Wahl zum Anlass, sich parteipolitisch zu organisieren. Und das in einer Situation, in der, obgleich sich gerade gezeigt hatte, wohin das führt, der Linkspartei abermals von interessierten Kreisen bestritten wird, zum demokratischen Lager zu gehören. Als kurz nach dem Tabubruch von Erfurt Tausende durch die Landeshauptstadt ziehen, um gegen Rechts und für Solidarität zu demonstrieren, sagt IG Metall-Vorstandsmitglied Hans-Jürgen Urban die »ideologische Unverschämtheit« einer Gleichsetzung von links und rechts im Rahmen der sogenannten »Hufeisentheorie«. Laut der sind sich die »extremen« Ränder der Politik näher, die »guten Demokrat*innen« fänden sich hingegen in »der Mitte«.

Es ist ein Grundproblem der politischen Kultur: die verbreitete Unfähigkeit der sogenannten Mitte, zwischen links und rechts zu unterscheiden. »Das gleichmacherische Gerede von den politischen Rändern macht blind für die Gefahren von rechts«, hieß es in jenen Tagen im »nd«. Auch deshalb war und ist der 5. Februar etwas, das weit über Thüringen hinaus Bedeutung hat. Und es steckt dahinter noch eine andere Frage: Wie soll eine Lösung der Krise gefunden werden, wenn dazu einerseits die CDU beteiligt werden müsste, diese andererseits aber für die Krise mitverantwortlich war? »CDU und Linkspartei spielen derzeit die entscheidende Rolle, wenn es darum geht, die von der AfD ausgelöste politische Krise konstruktiv zu wenden«, so hat das Horst Kahrs von der Rosa-Luxemburg-Stiftung damals formuliert. Die Thüringer LINKE tat, was in ihrer Macht stand: Angebote lancieren, auf eine erneute Wahl des Ministerpräsidenten pochen, was nach Kemmerichs Rücktritt wieder möglich war. Neuwahlen in Thüringen, wie von vielen gefordert, hätten die Bildung einer demokratischen Regierung abermals verzögert, Bodo Ramelow warnte daher vor einer »fundamentalen Staatskrise« bei einem »politischen Stillstand«. Bewegung gab es nun auch in der CDU. Mike Mohring kündigte seinen Rückzug an, sein Nachfolger Mario Voigt suchte glaubwürdig nach einem Ausweg. Und dieser wurde schließlich, einige politische Hakenschläge später, gefunden.

#BodoBleibt

Am 21. Februar einigten sich Linkspartei, SPD, Grüne und CDU auf einen Weg zur Überwindung der Krise. Ein Kompromiss, der einerseits der CDU entgegenkam, die allzu schnelle Neuwahlen verhindern wollte, nachdem ihr Mittun am Rechtsputsch die Umfragewerte hatte abstürzen lassen – während die Werte der LINKEN auf bis zu 40 Prozent anstiegen. Andererseits aber wurde so auch dem rot-rot-grünen Drängen auf eine schnelle Lösung der Krise durch eine Wiederwahl von Bodo Ramelow zum Ministerpräsidenten entsprochen. Ein sogenannter Stabilitätsmechanismus würde die Kooperation formal sicherstellen und ausschließen, dass CDU, FDP und AfD gemeinsam die Regierung blockieren. Anders herum sagten auch LINKE, SPD und Grüne zu, sich bei ihren Vorhaben mit der CDU ins Benehmen zu setzen, unter anderem bei der Aufstellung des Haushaltes für das Jahr 2021.

Was hier zunächst einmal als landespolitische Verfahrensfrage erscheint, geht in der Bedeutung weit darüber hinaus. Dass die Einigung von »R2G+C«, wie es zu jener Zeit im Internet gern hieß, stabile Verhältnisse in Thüringen, eine handlungsfähige Regierung und die Überwindung einer schweren Krise ermöglichten, ist das eine. Das andere hat grundlegenden Charakter, so wie der Tabubruch von Erfurt es zuvor hatte. Die Einigung verteidigte die demokratische Republik als Arena, innerhalb der unterschiedliche Interessen und Gegensätze überhaupt erst ausgefochten werden können. Sie war ein Schritt zum Erhalt der »Demokratie als Lebensweise«, eines Möglichkeitsraumes also. »Die Luft zum freien ›demokratischen Atmen‹ ist in manchen Kommunen bereits jetzt vergiftet«, so noch einmal Horst Kahrs. »Spätestens seit ›Thüringen‹ darf niemand mehr diese demokratische Luft für eine kostenlose Selbstverständlichkeit halten.«

Am 4. März 2020 wird Bodo Ramelow im dritten Wahlgang erneut zum Ministerpräsidenten gewählt. Als ihm der rechtsradikale AfD-Frontmann Björn Höcke danach gratulieren will, verweigert Ramelow ihm den Handschlag. Das Kabinett wird vereidigt, Thüringen hat eine schwere Krise hinter sich. »Die vergangenen Wochen sind für alle Beteiligten ein beispielloser Kraftakt gewesen. Zahllose Sitzungen und Presseerklärungen liegen hinter uns«, so hieß es damals aus der Linksfraktion im Landtag. Man dankte den Abgeordneten und Mitarbeiter*innen, auch den Journalist*innen, die »dauerhaft unter immensem Druck« gestanden und »kaum eine freie Minute« hatten. Man sei »sehr erleichtert, dass schlussendlich« eine Lösung gefunden werden konnte, »die letzten Tage haben gezeigt, dass konstruktive Gespräche unter den unvereinbar scheinenden Fraktionen möglich sind, und das gibt uns Mut für die folgenden Monate, in denen wir endlich wieder einer produktiven parlamentarischen Arbeit nachgehen können.« Was auch in der Linksfraktion zu diesem Zeitpunkt kaum vorstellbar schien: die nächste Krise stand schon vor der Tür.

Im Zeichen von Corona

Nur knapp eine Woche nach der erneuten Wahl von Bodo Ramelow saßen die Thüringer Abgeordneten der LINKEN in einem Konferenzraum nahe dem Landtag. Eigentlich sollte es nun losgehen mit der »normalen« Parlamentsarbeit. Doch es kam anders, und der Grund dafür war nicht, dass Bodo Ramelow nur wenige Tage vorher mit seiner Stimme für einen AfD-Abgeordneten bei der Wahl zum Landtagspräsidium für heftige Kontroversen gesorgt hatte – auch und gerade in der LINKEN. Der Grund war praktisch unsichtbar, verbreitete sich immer schneller und war inzwischen so gefährlich geworden, dass auch auf dieser Klausur niemand mehr daran vorbeikam. Die Corona-Pandemie war in der Bundesrepublik angekommen. Was eben noch eine Meldung aus dem Ausland war, sollte nun das ganze Leben, auch das parlamentarische, auf den Kopf stellen. 

Das hatte zunächst ganz praktische Folgen für die Fraktion. Im Landtag arbeiteten aufgrund der in schneller Folge verhängten immer strengeren Einschränkungen nur noch wenige Mitarbeiter*innen und Abgeordnete. Alle anderen blieben zu Hause am Ball. Sitzungen mussten als Telefonkonferenzen abgehalten werden. Auch für die Kommunikation nach draußen änderte sich vieles, öfter als zuvor wandten sich auch LINKEN-Abgeordnete via Livestream an die Öffentlichkeit. Der Parlamentarische Geschäftsführer André Blechschmidt verweist freilich auch darauf, dass »Gespräche am Fenster und am Gartenzaun« wieder eine Renaissance erfahren. Abstand halten inklusive. Die Corona-Krise schlug sich nicht zuletzt direkt im parlamentarischen Geschäft nieder. Sitzungen des Landtags im April wurden abgesagt, später unter provisorischen Bedingungen im nahe gelegenen Stadion abgehalten. Zwischen allen Redner*innen taucht eine Frau am Pult auf, desinfiziert die Ablage. Das Mikrofon trägt einen Plastiküberzieher. Abgeordnete mit Mund-Nasen-Schutz. »Eine einzigartige Situation«, so beschreibt LINKE-Fraktionschefin Susanne Hennig-Wellsow die Lage. »Ich merke das selbst zum Beispiel immer dann, wenn mir klar wird, dass es keine vergleichbaren Erfahrungen gibt. Vieles, was wir jetzt tun und erleben, ist auf eine besondere Weise neu, noch unbeschrittenes Gelände. Ich glaube, wir lernen gerade alle sehr viel. Auch zu Hause, oder im Freundeskreis.«

So geht es vielen, auch anderen Abgeordneten und Mitarbeiter*innen. Die Linksfraktion arbeitet unter Hochdruck, es werden erste Schwerpunkte zusammengetragen und diskutiert, später wird entlang dieses Rahmens ein milliardenschweres Paket mit Krisenhilfen aufgestellt. Für die Linksfraktion ein Fokus dabei: »ergänzende Maßnahmen zugunsten jener Menschen, die aufgrund ihrer besonderen beruflichen oder persönlichen Situation bisher nicht von den bereits vereinbarten oder angekündigten Angeboten erreicht werden«. Ein weiterer Schwerpunkt: die Richtung, die mit Krisenhilfen und den schon absehbar notwendig werdenden Konjunkturprogrammen in den kommenden Monaten eingeschlagen wird. »Setzen wir öffentliches Geld dafür ein und ändern Regelwerke nur mit dem Ziel, die Wirtschaft lediglich wieder auf einen Stand zu bringen, an dem viele der Herausforderungen noch vor uns lägen?«, so Susanne Hennig-Wellsow. »Oder nutzen wir eine kritische Gelegenheit, um mit den Konjunkturhilfen und Fördermaßnahmen nicht nur die Corona-Krise, sondern auch zugleich diese schon ›älteren‹ Herausforderungen zu bewältigen?« Stichworte sind hier: Strukturwandel in der Autobranche und Zulieferindustrie, die Bewältigung der Klimakrise, die Energiewende und das Ziel, sozial und ökologisch umzusteuern. 

»Unser Land wird sich durch die Pandemie verändern, das birgt Risiken, aber auch große Chancen«, hat Bodo Ramelow in seiner Regierungserklärung zur Corona-Krise Anfang Mai 2020 im Landtag gesagt. »Lassen Sie uns gemeinsam die Risiken minimieren und die Chancen nutzen.« Nicht zuletzt ein Arbeitsauftrag für die Fraktion, die emsig in den fachpolitischen Arbeitskreisen aus großen Worten wirksame Gesetze macht. »Der Landtag arbeitet, unsere Fraktion arbeitet. Und das mit vollem Engagement. Das ist vielleicht in solchen Krisenzeiten wie diesen nicht immer so nach draußen sichtbar wie sonst«, sagt Hennig-Wellsow. »Aber: Wir sind die einzige linksgeführte Landesregierung, und ich finde, man kann auch jetzt im Vergleich zu anderen Bundesländern sehen, dass das einen Unterschied macht.«

»Es waren halt immer gute Leute«

Die Geschichte der Linksfraktion ist damit nicht zu Ende. Einige ihrer Facetten aufzuschreiben, ist hier ein bescheidener Versuch unternommen worden. Was alles aus 30 Jahren Politik und Parlamentsarbeit muss dabei ungesagt, welche Kontroverse und welcher Streit müssen unerwähnt, wer von den vielen Mitarbeiter*innen und Abgeordneten werden ungenannt bleiben? Zu viele, das ist auf jeden Fall richtig. Und so sind auch die drei folgenden Einschätzungen lediglich ein kleiner Ausschnitt aus dem, was man in der Rückschau über diese drei Jahrzehnte sagen könnte. 

»Wir werden nicht alles anders, aber vieles besser machen« – so hatte es im Wahlkampf 2014 auf den Plakaten der LINKEN gestanden. Susanne Hennig-Wellsow erinnert sich daran, wie man damit »für viele Diskussionen und kritische Nachfragen« sorgte. »Wollen wir als linke Partei denn nicht alles ganz anders machen? Haben wir unser Ziel einer nicht-kapitalistischen Gesellschaft, den demokratischen Sozialismus, über Bord geworfen? Natürlich nicht. Aber es war uns wichtig, den Menschen klar zu sagen, dass auch eine neue Landesregierung nicht sofort und mit einem Federstrich alle Verhältnisse umwerfen kann, die einem guten Leben im Hier und Jetzt im Wege stehen. Und dass wir das, was heute in Thüringen gut ist, fortsetzen wollen. Wir hätten gelogen, hätten wir anderes behauptet. Es ging um Ehrlichkeit, was die WählerInnen unter den heutigen gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungen und politischen Kräfteverhältnissen von einer linken Partei erwarten können, die in einer Koalitionsregierung mit der SPD und den Grünen Politik macht.« 

Wenn jetzt, im Sommer 2020, die LINKE bei 35 Prozent steht, sagt das durchaus etwas darüber aus, wie richtig diese Herangehensweise war. Hätte man Dinge anders, besser machen können? Unbedingt! Aber das ist auch kein Argument gegen das Erreichte. Dass in anderen Bundesländern linke Politik einen schwereren Stand hat, fällt angesichts der Ergebnisse und Umfragewerte der Thüringer LINKEN sofort ins Auge. Wie war das möglich, zumal: einen linken Ministerpräsidenten nicht nur ins Amt zu bekommen, sondern eine Wiederwahl zu ermöglichen? Die Thüringer LINKE habe »es seit ihrem Bestehen geschafft, über alle Grenzen hinweg gemeinsame Politik zu gestalten und an einem gemeinsamen Ziel zu arbeiten. Interne Strömungen, deren Existenz berechtigt ist, dürfen sich nicht verzweigen, sondern müssen zu einem starken gemeinsamen Strom werden. Das macht einen Teil des Erfolges in Thüringen aus. Der Erfolg wurde mit Sicherheit auch deshalb erreicht, weil die Partei stets zwei Stränge in ihrer Politik vereinte und verfolgte: zum einen konkrete und machbare Alternativen für eine gerechtere, sozialere und demokratischere Landespolitik. Also einen inhaltlich begründeten Pragmatismus, der um die Jahrtausendwende mehr und mehr Fragen des ökologischen Umbaus der Wirtschaft, der Energiewende und der notwendigen Stärkung von Handwerk und Mittelstand mit einschloss. Zum anderen ließen die PDS und DIE LINKE in Thüringen aber nie einen Zweifel daran, dass es uns als linker und sozialistischer Partei um grundlegende gesellschaftliche Veränderungen geht. Mehr Gerechtigkeit und Solidarität, mehr Demokratie und Bürgerbeteiligung sowie eine friedlichere Welt verlangen, den Turbokapitalismus des 21. Jahrhunderts einzuschränken und schließlich zu überwinden«, so haben es einmal Dieter Hausold und Knut Korschewsky formuliert – zu einem Zeitpunkt, an dem ein guter Teil der Erfolgsgeschichte noch ungeschrieben war. 

Dass so eine Geschichte am Ende immer von Menschen gedacht und gemacht wird, dass man manchmal erst heftig streiten muss, um dann gemeinsam stärker in eine Richtung zu ziehen, dass Politik auch etwas mit persönlichen Enttäuschungen und mit Fehlern zu tun hat, all das stimmt dennoch. »Natürlich haben wir uns über Ausrichtung, Programmatik gestritten. Intensiv. Aber es waren keine Grabenkämpfe zwischen Gruppierungen«, so sagt es der langjährige Parlamentarische Geschäftsführer André Blechschmidt im Rückblick. Man habe immer geschaut: Was brauchen und wollen die Bürgerinnen und Bürger? Anerkennung und Verständnis habe man dafür bekommen, »dass wir uns nicht gegenseitig die Platte einhauen, sondern schauen, was wir für die Menschen hier tun können.« Und, auch das sagt Blechschmidt: »Klar hat das was mit den Leuten zu tun. Es waren halt immer gute Leute.«